Notfallpflege
«Mir gefällt, dass ich nie weiss, was mich heute erwartet»
Die Expertinnen und Experten der Notfallpflege spielen eine zentrale Rolle in jedem Notfallzentrum. Sie nehmen Patienten auf, machen die Erstbeurteilung, und beginnen je nach Krankheit oder Unfall mit den ersten Massnahmen. Wir durften eine erfahrene Expertin Notfallpflege in ihrem Alltag begleiten.
Nadine Schneider hat heute die Schichtleitung im Notfallzentrum als nach dem Mittag der Rega-Piepser losgeht. Die Rega-Zentrale in Zürich meldet einen Patienten an: «Töffunfall, männlicher Patient mit Polytrauma, kurz bewusstlos, wieder ansprechbar, Verdacht auf Thorax1Trauma, abdominelles2 Trauma und Oberschenkelfraktur, Kreislauf stabil, NACA 4.» Der NACA-Score ist eine Skala von eins bis sieben, um den Zustand des Patienten einzustufen. Ab NACA 4 – die Entwicklung einer Lebensbedrohung kann nicht ausgeschlossen werden – muss der Schockraum vorbereitet werden. Nadine informiert die diensthabende Assistenzärztin, die wiederum die Kaderärzte informiert, dass die Rega einen Schockraum-Patienten bringt. Dann bietet sie die Anästhesistin auf und stellt sicher, dass in der Radiologie das CT (Computertomographie) freibehalten wird, falls ein Notfall-CT nötig ist.
Nadine ist eine erfahrene Expertin Notfallpflege; sie arbeitet seit zehn Jahren auf dem Notfall des Spital Oberengadins. Doch selbst nach zehn Jahren geht ihr Puls noch hoch, wenn ein Patient für den Schockraum angemeldet wird. «Anhand der Informationen der Rega gehe ich im Kopf bereits alles durch, was der Patient haben könnte und was wir deshalb im Schockraum beachten müssen.» Währenddessen bereitet Nadine Infusionen, Blutdruckmanschetten und das EKG vor und die Ärztinnen und Ärzte treffen ein. Mittlerweile ist die Rega gelandet und bringt den Patienten ins Notfallzentrum im Erdgeschoss. Das neue Notfallzentrum ist so konzipiert, dass die Wege vom Lift zum Schockraum und ins CT möglichst kurz sind.
«In alljährlichen, interdisziplinären Trainings werden Situationen wie diese geübt, um die Professionalität hoch zu halten», sagt Nadine.
Keine Hierarchie im Schockraum
Es ist keine Hektik zu spüren, alle beginnen parallel zu arbeiten. «Infusion ist gelegt», sagt Nadine. Alle teilen den anderen klar und deutlich mit, was erledigt ist. Im Schockraum gibt es keine Hierarchie, aber es braucht einen Lead. Teamgeist, fachliche Kompetenz und klare Kommunikation sind angesagt. Jede und jeder muss mitdenken. Nach fünf Minuten ist klar, dass keine Lebensbedrohung besteht, der Patient erhält Schmerzmittel, wird im CT von Kopf bis Fuss untersucht und entsprechend der Diagnose behandelt.
«Schockraumsituationen haben wir hier nicht täglich, aber doch regelmässig», sagt Nadine. Das Wissen und die Sicherheit, diese Situationen ruhig und professionell zu handhaben, hat Nadine im Nachdiplomstudiengang Notfallpflege gelernt. Während zwei Jahren hat sie das Studium berufsbegleitend absolviert, nachdem sie bereits einige Jahre Berufserfahrung als diplomierte Pflegefachfrau hatte. «In diesen zwei Jahren habe ich einen riesigen Schritt gemacht, insbesondere bei Differentialdiagnosen. Ich habe gelernt, Patienten viel schneller einzuschätzen.»
Die Erstbeurteilung ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben, bei der im Spital Oberengadin entlang dem Manchester-Triage-System vorgegangen wird. Punkt für Punkt arbeitet sie in kürzester Zeit das Schema anhand der Leitsymptome des Patienten durch und stuft ihn dann gemäss Dringlichkeit ein. Danach leitet das Notfallpflegepersonal die Erstmassnahmen ein. Durch dieses System wird eine optimale Versorgung der Notfallpatienten sichergestellt. Die Lebensbedrohlichkeit der Verletzung oder der Krankheit definiert den Zeitpunkt des Erstkontaktes mit der Ärztin oder dem Arzt. «Wartezeiten sind unangenehm, doch gerade bei hohem Patientenandrang lässt sich das auf dem Notfall manchmal nicht verhindern», sagt Nadine.
«Unsere Inputs sind bei den Ärzten sehr willkommen.»
Lieblingstätigkeit: Patienten betreuen
Nadine liebt an ihrem Beruf, dass sie morgens nie weiss, was sie heute erwartet. «Es entsteht kein monotoner Tagesablauf und man braucht eine hohe Flexibilität und Belastbarkeit, um im Notfall die Konzentration sofort von 0 auf 100 hochzufahren.»
Die Patientin in Koje 3 braucht eine Blutabnahme. «Blutabnehmen und Infusionen legen gehören zu unseren Hauptaufgaben, deshalb werden wir auch immer wieder auf die Abteilungen gerufen, wenn ein schwieriger Venenzugang zu legen ist.» Die Notfallpflege hat die Berechtigung, die Patienten mit Schmerzmitteln und anderen Medikamenten zu versorgen. Der einjährige Junge in der Kinderkoje, die mit einem Schellenursli-Bild gekennzeichnet ist, braucht ein Schmerzmittel, bevor er geröntgt wird. Nadine schaut kurz das Gewicht des Jungen nach und bereitet die entsprechende Dosis vor. Während es in grösseren Städten einen Kindernotfall gibt, übernimmt die Notfallpflege im Spital Oberengadin dies selbst, was eine zusätzliche Herausforderung ist. Damit bereits Neugeborene bis Jugendliche professionell behandelt werden können, wird die Notfallpflege jährlich vom Kinderspital Zürich speziell geschult. «Mir gefällt, dass wir hier so viel Verantwortung haben.»
Ein grosser Teil der Arbeit macht auch die Dokumentation aus: «Wir erfassen jeden Schritt im System, damit die Versicherungen die Leistungen nachvollziehen und abrechnen können und damit wir in rechtlichen Fällen abgesichert sind.» Nadines liebste Tätigkeit ist jedoch die Betreuung der Patienten. Geduldig erklärt sie, warum ein verschriebenes Medikament wichtig ist, klärt mit der Assistenzärztin und der Patientin ab, ob diese ein Arztzeugnis braucht und gibt der Patientin noch letzte Tipps zur schnellen Genesung mit, bevor sie entlassen wird.
1 Thorax = Brustkorb
2 Abdomen = Bauch
Nachdiplomstudium Expert/in Notfallpflege:
Die zweijährige Ausbildung wird berufsbegleitend absolviert. Das Spital Oberengadin bildet alle zwei Jahre jemanden aus und übernimmt die Kosten der Ausbildung, wenn sich die Fachperson für drei Jahre im Spital Oberengadin verpflichtet. Die Ausbildung beinhaltet Repetition der Anatomie, vertiefte Medikamentenkunde, Erstbeurteilungen, Differentialdiagnosen stellen, Gipsen lernen und vieles mehr. Die Theorie wird blockweise in Zürich gelehrt. Nach der Ausbildung erhält die Fachperson den Titel Diplomierte ExpertIn Notfallpflege.
Happy Client
«Ich wurde im Juni 2022 als Patientin im Notfallzentrum des Spitals Oberengadin behandelt und möchte mich für die Betreuung bedanken.
Vor der Mittagszeit, als ich von Muottas Muragl zur Alp Languard wanderte, stolperte ich und fiel auf einen Stein, direkt auf mein Gesicht. Ich wusste sofort, dass ich verletzt war und medizinisch versorgt werden musste, aber ich lehnte eine medizinische Evakuierung ab, weil ich nicht glaubte, dass meine Verletzungen dies rechtfertigten.
Drei Stunden später, erschöpft und immer noch blutend, kam ich in Ihrer Notaufnahme an, wo ich von Ihrem Team freundlich, ruhig und kompetent empfangen wurde. Die pflegerische Betreuung war hervorragend (fürsorglich, umsichtig und klinisch angemessen). Der Arzt in der Notaufnahme war ebenfalls freundlich, intelligent und ausgezeichnet: Er beurteilte mich schnell, ordnete die notwendige CT-Untersuchung an und zog – als meine gebrochene Nase eindeutig darauf hindeutete – Ihren HNO-Arzt, Dr. med. Daniel Fanconi, hinzu. Dr. med. Fanconi kam am Freitagabend (!) um 19.30 Uhr zu mir und kümmerte sich hervorragend um mich: Er war sehr erfahren, beruhigend, kompetent und freundlich!
Ich schreibe Ihnen einfach, um mich für die hervorragende Betreuung zu bedanken, die ich erhalten habe, und zwar von jedem einzelnen Mitarbeitenden, den wir getroffen haben – von der Empfangsdame über den Radiologiefachmann bis hin zu meinen Pflegefachfrauen und Ärztinnen. Vielen Dank an Sie alle!
Alles Gute und herzlichen Glückwunsch zu Ihrem grossartigen Team in der beeindruckenden neuen Einrichtung.
Dr. med. Charlotte Cowan, Kinderärztin, USA