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Das Spital-Magazin

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«Es bleibt alles anders»

Willy Oggier

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Willy Oggier

Experte für Gesundheits­ökonomie

Sommer 2017
Wohin bewegt sich das Schweizer Gesundheitswesen? Der Gesundheitsmarkt ist einer der grossen Wachstumsmärkte und gewinnt ökonomisch immer stärker an Bedeutung. Wegen der demo­graphischen Entwicklung, aber auch wegen medizintechnischen Innovationen führt kein Weg daran vorbei, die vorhandenen Ressourcen möglichst effektiv und effizient einzusetzen. 

Wer Zusammenhänge erkennt, bleibt im Geschehen. Dr. oec. HSG Willy Oggier gilt mit über 20 Jahren im Geschäft als profunder Kenner des Gesundheitswesens und berät die Akteure der Branche mit seinen Einschätzungen, mit Hintergrundwissen und bezüglich Strategien. Wohin bewegt sich das Gesundheitswesen in der Schweiz? Heinz Schneider, CEO des Spitals Oberengadin, sprach mit dem ausgewiesenen Experten für Gesundheitsökonomie.

Besondere Heraus­forderungen dürften in der Linderung der sich abzeich­nenden Probleme der Patienten von morgen liegen.

Herr Oggier, welches sind Ihres Erachtens die wichtigsten Treiber im schweizerischen Gesundheitswesen?

Mögliche Treiber sind insbesondere der Alterungsprozess in der Bevölkerung, der eine andere Medizin verlangt. Dann aber auch die medizinische Entwicklung, die gekennzeichnet ist durch eine geringe Halbwertszeit des Wissens, weil wir es mit einer sehr innovativen Branche zu tun haben. Weitere Treiber dürften auch die Personalsituation sowie vermehrte Eingriffe in Richtung Staatsmedizin sein. Die beiden letztgenannten Faktoren dürften auch den Kosten- und Wirtschaftlichkeitsdruck erhöhen. Dies gilt umso mehr, wenn sich die Situation der kan­to­nalen Finanzhaushalte verschlechtert und Krankenversicherer und Spitäler zusammen nicht in der Lage sind, neue Versorgungs- und Zusatzversicherungs­modelle auf die Beine zu stellen, um mehr wett­bewerblichen Elementen zum Durchbruch zu verhelfen.

Welche generellen Folgen lassen sich daraus ableiten?

Spitäler und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen müssen die Angebote vermehrt zum künftigen Bedarf hin entwickeln. Dieser liegt einerseits in der vermehrten Ausrichtung auf chronische Erkrankungen, die oft jahrelang betreut werden müssen, und anderseits in der vermehrten Spezialisierung. Qualität wird zu einem wichtigen Erfolgsfaktor. Dies ist nicht nur eine ärztliche Aufgabe, sondern es geht auch um die Erfahrungen in der Pflege – im Fachjargon: um evidenzbasierte Pflege. Wissensmanagement und die Steigerung der Attraktivität für qualitativ hochwertiges Personal in allen Bereichen des Spitals durch gezielte Bildungsangebote, geeignete Arbeitsplätze und das Ermöglichen von Entwicklungsperspektiven werden wichtiger. Neben den Ansätzen für den Krankheitsmarkt gilt es auch, den Gesundheitsmarkt nicht zu vergessen. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie Gesunde beziehungsweise weniger kosten­intensive Patienten weiterhin ihren Zustand aufrechterhalten oder gar verbessern können.

Wo sehen Sie die besonderen Herausforderungen für Spitäler in Bergregionen?

Besondere Herausforderungen dürften in der Beseitigung oder wenigstens Linderung der sich abzeichnenden Probleme der Patienten von morgen liegen. Dazu zählen der Bevöl­kerungsschwund in den Tälern beziehungsweise der Peripherie, die altersbedingte Aufgabe von Hausarztpraxen und fehlende Nachfolger für die ambulante Grundversorgung. Des Weiteren gehören die Regelungen des Notfalldienstes und der zunehmend nötig werdende Spagat in der dezentralen Spital­versorgung zwischen der Sicherstellung der Versorgung in der ländlichen Region (auch unter Berücksichtigung der sich abzeichnenden Hausarzt-Lücken) und der vom eidge­nössischen Krankenversicherungsgesetz (KVG) vermehrt geforderten Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitig steigenden Kosten dazu.

 

Wie beurteilen Sie die Situation im Kanton Graubünden?

Die Strategie des Kantons Graubünden mit ihren Grundsätzen (Beibehaltung der dezentralen Spitalversorgung; keine Spitalschliessungen, aber Überprüfung des Leistungsangebots; Primat dem Kantonsspital für Seltenes und hohe Medizintechnik-Aufwände; Kooperationen mit dem Kantonsspital und mit Privatkliniken im Kanton; Wahrnehmung aller Leistungen durch ein Gesundheitszentrum pro Region) kann als vernünftig bezeichnet werden. Die Bewährungsprobe erfolgt aber selbstverständlich im Einzelfall. Da kann durchaus auch die Frage gestellt werden, ob das Kantonsspital für Seltenes einerseits die einzige Anlaufstelle in einem topographisch so verzweigten Kanton sein soll und anderseits, ob das Einzugsgebiet Graubündens für Seltenes teilweise nicht zu klein ist und in ausserkantonale Referenzkliniken ausgewichen werden sollte. Ordnungspolitisch stellt sich auch immer wieder – nicht nur im Kanton Graubünden – die Frage, in wie weit Seltenes wirklich selten oder ein Markteintritts-Barriere-Argument ist, um potentielle private und/oder öffentliche Mitbewerber zu verhindern.

Besonders herausfordernd dürften der Bevölkerungsschwund in den Tälern, die altersbedingte Aufgabe von Hausarztpraxen und fehlende Nachfolger für die ambulante Grundversorgung sein.

Verschiedene Regionen brauchen verschiedene Lösungs­ansätze, um eine bedarfs­gerechte Versorgung sicher­zustellen.

Ist die besondere Situation der ländlichen Spitäler vor allem ein schweizerisches Problem?

Anderen Ländern mit weniger gebirgigen Strukturen stellen sich ähnliche Fragen bei der Sicherstellung der ländlichen Versorgung. Dies gilt insbesondere für Länder, die ähnliche Spitalfinanzierungs-Systeme wie die Schweiz aufweisen. In Deutschland beispielsweise schrieben im Jahr 2014 über 40 Prozent der ländlichen Spitäler Verluste, nur etwas mehr als ein Drittel erzielte positive Ergebnisse. Anhaltender Kostendruck, Investitionsstau, Fachkräftemangel und der Alterungsprozess sind auch da wichtige Gründe. Innovative Konzepte und tiefgreifender Strukturwandel sind auch dort gefordert. Dabei wächst die Bedeutung der ländlichen Kliniken wegen der Defizite in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Daher gibt es in Deutschland den Sicherstellungszuschlag – ein Instrument, das mit der Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen nach KVG verglichen werden kann. Der Zuschlag soll die Vorhaltung von (Kapazitäten für) Leistungen gewährleisten, die auf Grund des geringen Versorgungsbedarfs mit Fallpauschalen nicht kostendeckend finanzierbar und zur Sicherstellung der Versorgung der Bevöl­kerung bei einem Spital notwendig sind. Die Krankenhäuser auf den Ost- und Nord­seeinseln in Schleswig-Holstein beispielsweise erhielten wegen der besonderen Struktur- und Versorgungs­probleme ihrer Insellage die ersten Sicherstellungszuschläge.

Wie positionieren sich kleinere Spitäler unter diesen Bedingungen andernorts?

Kleinere Spitäler lassen sich vermehrt vom Netzwerk-Gedanken leiten. Sie wollen vermehrt erste Anlaufstelle auf dem Land werden, mit guter Diagnostik und Triage als Kernaufgaben. Mit neuen Kommunikations- und Informationsmitteln ist die Zusammen­arbeit mit anderen Spitälern vermehrt möglich. Telemedizin, Handy und Internet ermög­lichen beispielsweise im Bereich der Schlag­anfall-Versorgung über Kooperationen, dass schnell entschieden werden kann, ob der Patient verlegt werden muss.

Ist die Gesundheitsversorgung in Berggebieten in der Zukunft überhaupt noch finanzierbar?

Wir sollten nicht nur über die Kosten reden, sondern auch den Nutzen sehen. In einer älter werdenden Gesellschaft heisst bedarfsorientierte Politik, mehr für das Gesundheitswesen auszugeben und nicht weniger – sowohl privat als auch über Sozialversicherungs- und Steuergelder. Verschiedene Regionen brauchen gerade in einem so vielfältigen Land wie der Schweiz auch verschiedene Lösungsansätze, um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen. In grossen Städten gelten andere Ausgangs­lagen als in ländlichen Regionen. Daher sind ländliche Regionen besonders gefragt. Wer dabei früh anfängt, bekommt vielleicht auch noch eine Anschubfinanzierung. Für die anderen dürfte es mehr kosten. Dabei gilt es stets im Auge zu behalten: Wirtschaftlichkeit kann nie losgelöst vom Versorgungsziel diskutiert werden. Wir können uns auch zu Tode sparen. Dies gilt im Gesundheitswesen wortwörtlich. Dass die Bevölkerung in der Schweiz eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt aufweist, dürfte kein Zufall sein.

Was es braucht, ist auch eine stärkere Vernetzung mit den Grundversorgern, die noch verbleiben. Mitbenützung der Spitalinfrastruktur, der Geräte, aber auch die gegenseitige Öffnung der elektronischen Krankengeschichten zum Wohle des Patienten sind weitere Stichworte dazu.